Gedanken zu Krieg und Freiheit
In Jahrgang 12 dreht es sich im Werte und Normen Unterricht zurzeit um das Thema Freiheit. Die Schülerin Stine Barne hat einen offenen Text zu der Fragestellung verfasst, wie aktuelle Kriege, Krisen und Konflikte unser Verständnis von Freiheit beeinflussen.
Die Gedanken der Schülerin sind bewegend und regen zum Nachdenken an, weshalb sie an dieser Stelle geteilt werden. Vielen Dank für den Beitrag!
Wie beeinflussen aktuelle Krisen, Konflikte oder Kriege unser Verständnis von Freiheit?
(ein Text von Stine Barner, Nov. 2022)
Ich bin in einer sorglosen Welt aufgewachsen. In meiner Welt gab es nichts, vor dem ich mich sorgen musste. Ich habe immer genügend zu essen bekommen, konnte mit meinen Freunden draußen frei herumlaufen, ohne mich vor irgendwas etwas zu fürchten, hatte meine Familie eng beisammen, meine Eltern einen sicheren Arbeitsplatz und habe mich gefreut, meine Freunde in der Schule zu sehen. Nachmittags saß ich oft bei meiner Oma. Wir spielten zusammen Karten oder gingen Eis essen. Oma war schon immer ein Vorbild für mich. Ich habe zu ihr aufgeschaut und sie bewundert. Nicht oft hat sie über ihre Kindheit geredet, doch sobald sie anfing zu erzählen, wurde ich stumm und hörte zu.
„Es war morgens in der Früh“ beginnt sie, „und Mutter kam rein und sagte wir können hier nicht länger bleiben“. Oma starrt an die Wand. „Fritz lief noch raus, um all unseren Tiere genügend Fressen zu geben, die Pferde bekamen den ganzen Sack Möhren und die Hühner all das Trockenfutter, was wir noch da hatten. Doch ich war noch zu klein, um das zu verstehen. Vater war schon seit einigen Wochen weg, doch wo er war, wusste ich auch nicht. Mir wurde immer gesagt, er würde für uns kämpfen und dass er uns und all unsere Freunde beschützt. Also packte ich mein Kuscheltier und meine besten Kleider, Irma kam rein und half mir. Mutter nahm alles zu essen, Fritz sammelte unsere wichtigen Dokumente, Erna nahmen alle Bilder, die im Haus standen und Reinhold spann zwei Pferde vor die Kutsche. Ich trat mit meinen zwei Taschen vor die Tür und Fritz half mir in die Kutsche, in der auch schon die Nachbarn saßen. Ich konnte nicht mal meiner besten Freundin tschüss sagen, da liefen die Pferde schon los. Dass wir diesen Ort nie wieder sehen würden, hätte ich nie gedacht. Ich dachte, wir würden an einen sicheren Ort gehen, für eine kurze Zeit und dann würden wir mit Papa wieder heimkehren und alles wäre wie vorher. Doch das war gerade mal der Anfang. Zwei Jahre verbrachten wir in Polen, bevor wir uns mit vielen anderen Deutschen nach Deutschland machten. Ich sprach deutsch und war Deutsche, doch noch nie zuvor war ich in diesem Land. Wie Fremde wurden wir angeschaut, obwohl wir doch einer von ihnen waren. Ein Volk. Mutter wurde verachtet, weil Vater nicht dabei war und sie mit fünf Kindern alleine war. Keiner wollte uns aufnehmen. Nichts hatten wir. Die Russen waren hinter uns her, weil wir deutsch sind und die Deutschen haben uns nicht als Deutsche gesehen. Nichts waren wir und keiner wollte uns.“
Ich schaue Oma mit großen Augen an. In meinem Kopf sind tausend Fragen, doch ich weiß, dass es besser ist, sie nicht zu stellen. Es ist für mich unbegreiflich, dass Oma ihr Land und alles was sie hatte, verlassen musste. Doch gleichzeitig scheint es auch so fern. Es ist wie ein Film, etwas Surreales. Als ich abends Mama davon erzähle, sagt sie, dass wir froh sein können darüber, dass wir in einer so sicheren Welt leben, in der unsere Freiheit geschützt wird. In der wir sein können, wer wir wollen und dafür nicht verurteilt werden.
Nun bin ich einige Jahre älter. Oma lebt mittlerweile nicht mehr, doch ihre Geschichte bleibt. Wenn ich ihr erzählen würde, dass Leute heute wieder aus der gleichen Gegend, in der sie gelebt hat, fliehen müssen, würde ihr wahrscheinlich die Sprache wegbleiben. Ich dachte doch immer, dass es hier sicher ist und dass ich mich um nichts sorgen muss. Das hatte Mama mir schließlich als kleines Mädchen versprochen. Doch auf einmal scheint der Verlust dieser Freiheit gar nicht mehr so fern. Ich stelle mir vor, wie es ist, alles zu verlieren. Das habe ich mir auch als Oma es mir erzählt hat, allerdings war das immer aus einer außenstehenden Perspektive. Auf einmal, denke ich darüber nach, was ICH wirklich tun würde. Was ist, wenn mir meine Freiheit genommen wird? Etwas, dass immer so fern schien, ist auf einmal so nah. Unsere heile westliche Welt, ist nicht mehr die heile westliche Welt, die es mal war. Wir sind nicht vor allem geschützt und behütet. Damit hätte ich niemals gerechnet und damit umgehen zu lernen, dauert seine Zeit. Doch gleichzeitig fühle ich auch, dass umso gefährdeter unsere Freiheit ist, desto mehr nutze und schätze ich sie. Ich buche das Flugticket, denn ich lebe in der EU, und ich muss diese Freiheit nutzen, mich frei bewegen zu können, sorglos zu handeln. Ich muss sie wertschätzen und das tue ich, indem ich sie nutze.
Natürlich bin ich, seit ich mit meiner Oma geredet habe, auch älter geworden und habe durch das Alter mehr Freiheiten gewonnen, wie längere Ausgehzeiten, eigenes Geld, ein eigenes Fortbewegungsmittel und mehr Entscheidungsfreiheit. Dennoch haben die äußeren Umstände das Verständnis dieser Freiheiten geprägt. Mein Verständnis von Freiheit ist tiefgründiger geworden. Ich schätze meine Freiheit mehr, denn sie besteht für mich nicht mehr nur daraus, meine eigenen Entscheidungen zu treffen, sondern viel mehr aus dem, was ich tun kann, ohne Sorgen zu haben. Freiheit heißt für mich, sich keine Sorgen machen zu müssen. Ich muss mir keine Sorgen darüber machen, ob ich mein Leben hier zurücklassen muss. Ich muss mir keine Sorgen machen, um welche Uhrzeit ich rausgehe, da dort sonst Angriffe stattfinden könnten. „Noch habe ich all diese Freiheiten, deswegen muss ich sie nutzen“, das sage ich mir immer wieder. Es steckt ein wenig Angst dahinter, denn was macht das westliche Leben noch aus, wenn wir nicht mehr frei sind?!